Moonshot Thinking - Digitale Innovationen in den Freien performativen Künsten – Teil 1

1. November 2019 | Susanne Schuster

Gerd Altmann

Vortrag im Rahmen des BUNDESFORUM 2019 vom Bündnis für Freie Darstellende Künste (Bundesverband Freie Darstellende Künste und Fonds Darstellende Künste) von Susanne Schuster [1] gehalten am 3.9.2019.

Wer sich mit Digitalisierung auseinandersetzt, stößt, egal wo, immer wieder auf die gleiche Aussage: Algorithmen sind überall! Und das stimmt natürlich: nach zwei Jahrzehnten ist die Digitalisierung in alle Lebensbereiche der Gesellschaft vorgedrungen. Das bezieht sich nicht nur auf den persönlichen Alltag, die Art und Weise, wie wir miteinander kommunizieren, arbeiten, einkaufen, uns durch die Stadt bewegen oder Medien konsumieren, sondern insbesondere auch auf die globalen Verstrickungen von Technologie mit Politik, Wirtschaft, Finanzwesen, Medizin und Forschung usw. Im Unterschied zu bisherigen Revolutionen verläuft der Fortschritt der digitalen jedoch nicht mehr linear, sondern exponentiell.

Im Silicon Valley kursiert hierfür ein Begriff, der fast schon zum Zauberwort mutiert: „Konvergenz“. Gemeint ist der Prozess des gleichzeitigen Zusammenfließens und Beschleunigens, bei dem durch die Verarbeitung von massenhaften Daten aus den unterschiedlichsten Feldern interdisziplinäre Vorstöße erreicht werden. Bei der Geschwindigkeit der großen Digitalkonzerne ist es nicht immer leicht mitzukommen und das performative Potential von Algorithmen im Blick zu behalten. Denn letztlich sind digitale Anwendungen wie Soft- und Hardware in ihrer Beschaffenheit eine hervorbringende, also performative Praxis, die Menschen und ihre Kulturen zu denken und zu gestalten.

Das Betrachten und Verhandeln der eigenen Realitäten und Lebenszusammenhänge ist seit jeher ein Grundprinzip der Kunst, insbesondere der darstellenden Künste. Ebenso diese kritisch zu hinterfragen. Doch im Zuge der Digitalisierung fehlt es an technischer Expertise, an Experimentierraum und an Ressourcen, um die künstlerische Praxis ins Zeitalter der Digitalisierung zu überführen. Es gibt einen hohen Bedarf, Strategien für die künstlerische Arbeit mit und an digitalen Phänomenen zu erproben und für Akteur*innen der Freien Szene zugänglich zu machen. Schon längst sind digitale Phänomene und Wirkungsmechanismen zu innovativen Impulsgebern für die Kultur geworden. Das betrifft ebenso alle Bereiche der Kulturinstitutionen, als auch die künstlerischen Prozesse selbst. 

Ich freue mich sehr, euch und Ihnen nun einen kleinen Einblick in die digitalen Innovationen der Freien performativen Künste geben zu dürfen. Anschließend möchte ich die Herausforderungen, die sich bei der Arbeit mit digitalen Werkzeugen für Kulturschaffende ergeben, problematisieren und einen ersten Vorschlag für Handlungsfelder umreißen, die ich gern im weiteren Verlauf des Tages mit Ihnen diskutieren würde. 

Mithilfe von digitaler Hardware und Software entstehen neuen Wahrnehmungsfelder und Interaktionsräume für Künstler*innen und Publikum: die Verwaltung von Publikumsaktionen und Interaktionen spielt eine entscheidende Rolle und wird nicht selten durch eigens entwickelte Software gestaltet. So entstehen durch die Handlungen und Bewegungen der Zuschauer*innen komplexe Systeme, in denen die Teilnehmenden mit vielschichtigen Erfahrungen und Narrationen konfrontiert werden. So etwa in den Arbeiten von RIMINI PROTOKOLL, wodie Bedeutung des digitalen Raumes für demokratische Prozesse untersucht wird, in dem ein Algorithmus das Publikum selbst zu unauffällig Agierenden werden lässt, und sie durch die Räume eines Museums navigiert.

Bei INTERROBANG werden durch die Verschaltung und Produktion von neuen, szenischen Kommunikationswegen digitale Erzählweisen im Theaterraum geschaffen und gleichzeitig relevante Themen, wie hier Big Data, reflexiv behandelt.

Es ist ein neues Genre entstanden, das sogenannte Game-Theaters [2], das Elemente und digitale Erzählstrategien aus Computerspielen mit Theater verknüpft. In den an Point‘ n Click - Adventures angelegten Inszenierungen von MACHINA EX erspielt sich das Publikum die bereitgestellte Geschichte, indem sie Rätsel lösen und sich durch interreaktive Räume bewegen. ANNA KPOK hingegen übersetzt Interaktionsweisen aus dem digitalen Raum in den Bühnenraum, wo das Publikum die Avatare der Live Run and Jump- Spiele per Sprachanweisung steuert.

Mein eigenes Kollektiv OUTOFTHEBOX gestaltet performative Erfahrungsräume, in denen die Teilnehmenden mithilfe von selbstentwickelter Software über zukünftige Szenarien spekulieren.

Es muss aber nicht immer eine eigene Software sein, nicht selten sieht man Beispiele in der Freien Szene, die digitale Produkte verfremden und durch ihre Neukontextualisierung für künstlerische Arbeiten nutzbar machen. So etwas bei COSTA COMPAGNIE, wo fünf Performer*innen gemeinsam mit „Google Home“ als Online-Spielpartner*in die Interaktion von Menschen und Künstlicher Intelligenz erkunden.

Es gibt noch unzählige weitere Künstler*innen und Kollektive in dem Feld, die ich leider aufgrund der Kürze der Zeit nicht benennen kann. All diese Ansätze zeigen, dass durch algorithmische Prozesse die Wahrnehmungsgewohnheiten der Teilnehmenden herausgefordert werden und sie zur aktiven Mitgestaltung der Aufführungen einladen. Zugleich verändert sich durch derartige Modelle der Teilhabe der Produktionsprozess maßgeblich, da multiple Ausgänge und unvorhersehbare Publikumseingaben in der Konzeption mitgedacht werden müssen. Der Einsatz von digitalen Tools erfordert längere und kostenintensive Produktionszusammenhänge. Künstler*innen werden zunehmend zu Softwareentwickler*innen, zu Produzent*innen von Algorithmen, und nicht zuletzt zu Hacker*innen, die Vorgänge, Inhalte und Theatererfahrungen strukturieren und einem Publikum präsentieren.

[1] Der Impuls basiert insbesondere auf den Erfahrungen in der Arbeit meines Kollektivs OutOfTheBox und ist im Austausch mit dem Medienkünstler Ricardo Gehn entstanden.

[2] Vgl. RAKOW, Christian: Game-Theater, in: POP Kultur und Kritik, Heft Nr. 6 Frühling 2015, S. 88-93

Mit freundlicher Genehmigung von

Ein Beitrag von
Susanne Schuster
OutOfTheBox
Dramaturgin