Neue Kunst aus der Vergangenheit – dank KI
22. Februar 2019 | Holger Volland
Vor einigen Wochen schien in London das Unmögliche möglich zu werden. Schuberts „Unvollendete“ war von einer Künstlichen Intelligenz der chinesischen Firma Huawei nach 197 Jahren aus ihrem unfertigen Zwischenleben erlöst und vollendet worden. Bei einem festlichen Konzert in der Cadogan Hall präsentierte ein Orchester die neue Sinfonie in h-Moll 759 D dem staunenden Publikum und der Weltpresse.
Vor etlichen Monaten stand, vom hellen Arbeitslicht einer Messehalle perfekt ausgeleuchtet, ein Gemälde von Rembrandt vor mir. Darauf abgebildet war ein Mann mit Hut und Bart, der mich über seinem weißen Kragen ein wenig verwundert ansah. Unsere beiden Köpfe waren etwa gleich groß, wie wir da ganz nahe beieinander in der Messehalle standen. Die offenen braunen Augen des Porträtierten blickten mich scheinbar direkt an und sein Mund war schon leicht geöffnet, als ob er gleich ein paar Worte in seinem alten niederländischen Dialekt an mich richten würde. Der weiße, gefältelte Stoffkragen war allem Anschein nach aus vielen sehr dünnen Lagen angefertigt und legte sich luxuriös um seinen Hals. Seinen Kopf schützte ein dunkler Hut mit breiter Krempe, unter deren Schatten sich ein auffallend großes Ohr versteckte. Je länger ich ihn ansah, umso lebendiger wirkte der Mann auf mich. Hatte nicht sein Mund mittlerweile einen leicht spöttischen Zug angenommen? Blitzten seine Augen nicht ein bisschen hochnäsig? Konnte es sein, dass sich dieses Bild gerade darüber lustig machte, dass ich es so fasziniert anstarrte? Nie zuvor war ich einem Rembrandt so nahegekommen.
Doch auch dieses Werk, das alle Merkmale eines Rembrandt Gemäldes aufweist – von der Farbgebung über den Pinselstrich bis hin zur lebhaften Darstellung von Gefühlen – ist eine nagelneue Arbeit. Sie ist mehr als 340 Jahre nach Rembrandts Tod entstanden. Doch das Erstaunlichste an diesem Bild ist nicht etwa, dass es eine perfekte Kopie eines alten Rembrandts wäre. Dieses Bild ist vielmehr eine völlig eigenständige Arbeit. Denn auch den Porträtierten konnte Rembrandt van Rijn selbst nie gesehen haben, da er nie real existiert hat. Ausgedacht hat sich diesen Mann vielmehr eine Kreative Künstliche Intelligenz, die auch Bildkomposition, Lichtsetzung, ja sogar die Gestaltung des Gesichtsausdruckes übernommen hatte. Die Algorithmen hatten sich durch die Analyse vieler Porträts selbst beigebracht, wie der Maler Augen, Ohren oder Münder gestaltete, wie er Licht und Schatten verwendete oder gezielt Kleidungsstücke einsetzte. Nach diesem Lernprozess ist sie jetzt in der Lage, selbstständig beliebig viele neue Porträts im Stile des Meisters zu entwerfen.
Beide Beispiele zeigen deutlich: zukünftig werden Algorithmen einen großen Einfluss auf die kulturellen Inhalte unserer digital geprägten Medienwelt haben. KI kann Bilder erschaffen, Musik komponieren und Gedichte schreiben. Noch bedient sie sich dabei allerdings immer bei Vorlagen der ganz Großen: Rembrandt, Schubert, Shakespeare. Denn wahrhaft kreativ handelt die KI dabei noch nicht. Sieht man genauer hin, ist Schuberts Unvollendete 2.0 nämlich vor allem eine Marketingaktion des Technologieunternehmens Huawei, das derzeit in der westlichen Welt unter Kritik steht. Denn tatsächlich analysierte eine KI der Firma vor allem Klangfarbe, Tonhöhe und Taktmuster der ersten beiden Sätze von Schuberts Sinfonie und berechnete anschließend Melodieschnipsel für die fehlenden dritten und vierten Sätze. Eine Melodie ist aber natürlich noch lange keine Sinfonie. Die Orchester-Partitur kam dann auch vom menschlichen Komponisten Lucas Cantor.
Ob KI irgendwann allerdings auch diesen, den kreativen Part übernehmen können wird, ist noch nicht ganz ausgemacht. Doch jetzt schon brandet heftig die Diskussion auf, ob Maschinen kreative Leistungen ähnlich gut erbringen können, wie Menschen. Maschinen, die Kunst machen, wirken auf uns bedrohlich – Kunst ist schließlich eine der wichtigsten Domänen des Menschen. Viele fragen sich deshalb sogar, ob Algorithmen eines Tages die neuen Schöpfer der Welt werden können. Nun, zumindest werden sie einen Teil der kulturellen Welt mitgestalten. Und dafür ist es noch nicht einmal nötig, dass die Maschinen selbst originär kreativ sein können. Es reicht, wenn wir auf ihre Kopien und Substitute mit denselben Emotionen reagieren, wie auf kulturelle Inhalte, die von Menschen geschaffen wurden.
Holger Volland veröffentlichte zuletzt „Die kreative Macht der Maschinen“ (BELTZ 2018), ist Gründer des digitalen Kulturfestivals THE ARTS+ und Vice President der Frankfurter Buchmesse.