Neue Musik und KI – Teil 1

14. Juni 2019 | Joachim Heintz

Es gibt nicht eine Musik, es gibt viele Musiken. Welch ein unendlicher Reichtum, welche verschiedenen Funktionen, welche je anderen Subtilitäten und Techniken in den Zigtausenden traditioneller Musikkulturen in Afrika und Asien, Amerika und Australien! Aber selbst diese Welten, die bis vor kurzem in bescheidenem Kolonialismus als außereuropäische Musik bezeichnet wurden, außer acht lassend: Wie unvergleichlich sind die Musiken von Guillaume de Machaut und Ludwig van Beethoven, eines Popsongs und Noise Music, einer Musik für ein Spiel und einer Geräuschkomposition!
Diese substanziellen Verschiedenheiten sind auch dann noch wichtig, wenn man sich vor allem auf das klingende Resultat konzentriert und von den verschiedenen Kontexten der Produktion und Rezeption absieht. Es ist etwas Grundverschiedenes, ob eine KI eine Klaviersonate im Stil von Beethoven komponiert, einen Song, eine Filmmusik oder ob ein Computerprogramm in Neuer Musik eingesetzt wird.*1
Ein Stück klassischer Musik beruht ebenso wie ein Song auf bekannten Regeln, verbunden mit einem Fundus an Beispielen. Ein Programm kann eingesetzt werden, um auf der Basis dieser Regeln ein Stück zu komponieren, oder um auf Basis des Fundus ähnliche Stücke zu erzeugen. Das Programm imitiert dabei den Menschen. In vielen Praktiken der Neuen Musik kann aber die KI zum Teil des Kompositionsprozesses selbst werden. Bildlich gesprochen: Die KI ist nicht mehr außen, sie ist innen.
Ich möchte in diesem Blog darstellen, wie sehr das Programmieren — verstanden als Denkweise, nicht als Tippen von Code — wichtigen Strömungen der Neuen Musik schon in den 1950er Jahre eingeschrieben ist. In einem folgenden Blog blicke ich dann in die Gegenwart.

Serielle Musik

An der seriellen Technik, die Anfang der 50er Jahre vor allem in Europa als die Kompositionsweise der Avantgarde galt, kann man sehr schön die Verbindung von Traditionsbezug und Neuheit sehen, die die Geschichte des Komponierens insgesamt durchzieht. Sich selbst verstehend als Weiterentwicklung der Zwölftontechnik Schönbergs, berührt und erneuert sie ganz alte Traditionen nicht nur von Kontrapunkt, sondern vor allem von Variation. Serielles Komponieren ist quasi unendlich verfeinertes und multidimensionales Denken in Variationen. Das verbindet es bei allen Unterschieden mit einem Organum des 10. Jahrhunderts ebenso wie mit Sweelinck oder Beethoven.
Was ist der Unterschied, was ist die Neuheit? Was das klingende Material angeht, denkt das serielle Komponieren in Parametern. Traditionell sind das vor allem Höhe, Dauer und Lautstärke eines Tons*2.  Diese Parameter werden nun in Reihen organisiert, und diese Reihen laufen dann, je nach Entscheidung des Komponierenden, für eine Zeit ab und setzen sich zu den klingenden Ereignissen zusammen. Kein “Machine Learning”, sondern ein „Machine Building“: Der Komponist baut sich eine Maschine und lässt diese dann — für eine gewisse Zeit und mit mehr oder weniger vielen Eingriffen — laufen.
Für alle, die heute das Ende der Musik, oder jedenfalls der menschlichen Kreativität auf uns zukommen sehen, hat die serielle Musik vielleicht dieses Ende schon vorweg genommen. Wird hier nicht schon der Mensch durch die (Kompositions-)Maschine ersetzt?
Ich glaube, dass man im Gegenteil an dieser Musik sehen kann, was „mit Maschinen spielen“*3  bedeuten kann. Die Maschinen, die hier gebaut werden, sind ein Teil der eigenen Erfindung. Sie können strikt sein oder Leerstellen lassen. Sie können zu spannenden oder langweiligen Resultaten führen. Sie werden im Kompositionsprozess in einer spezifischen Weise eingesetzt, und auf die Resultate wird wiederum reagiert. Schon an einem frühen Stück von Stockhausen kann man sehr schön diese Reaktionen sehen, von der Änderung des Maschinenlaufs bis hin zur ganz freien Entscheidung des Komponierenden.*4
Die Phantasie, die Einbildungskraft und Emotionalität verlagern sich in dieser Musik, sie ändern gleichsam den Modus. Was bei einem romantischen Komponisten vielleicht Erfindung einer Melodie war, wird jetzt Erfindung einer Struktur. Was Entscheidung für eine Tonart war, wird jetzt vielleicht Entscheidung für Intervallverhältnisse. All das, und vieles mehr, hat Folgen für das, was klingt. Und darum geht das Spiel.

Unbestimmtheit

Die Maschine, die essenzieller Teil der KI ist, steckt also beim seriellen Komponieren tief in der eigentlichen Technik. Ihre Erfindung und Gestaltung ist wesentlicher Teil der künstlerischen Phantasie und Entscheidung. Das trifft auch auf eine ganz andere Richtung modernen Komponierens zu, die mit dem Namen John Cage verbunden ist. Sie macht die Unbestimmtheit (indeterminacy) zum zentralen Thema.*5
Die Maschinen, die Cage baut, sind in vieler Hinsicht ganz ähnlich strukturiert wie die seriellen Maschinen. Auch hier ist der Blick auf Parameter und deren Kombination zentral. Der Komponist fragt: Welche Parameter sind für mich wichtig? Wie will ich Entscheidungen in ihnen treffen? Handelt es sich beispielsweise um ein Klavierstück, mag es um Parameter wie Tonhöhen, Dauern, aber auch Formteile, Akkordstrukturen und Bewegungsformen gehen. Handelt es sich um ein Tonbandstück mit aufgenommenen Klängen, mag die Frage sein, wo die Klänge aufgenommen wurden, ob sie Tonhöhen haben oder geräuschhaft sind, wie ihre Klangfarbe oder Lautstärke zu verändern sind, verbunden vielleicht mit Formen des Bandschnitts.*6
Ebenso wie die serielle Denkweise beruht Cages Musik der 1950er Jahre auf der Entscheidung von Eigenarten, die für ein bestimmtes Stück konstitutiv sind, und dem Herausarbeiten von Methoden, wie sich aus diesen Eigenarten die klingenden Ereignisse bilden. Der Unterschied zur seriellen Musik ist im wesentlichen der, dass die Entscheidungen nicht durch eine Reihe getroffen werden, sondern durch bestimmte Zufallsprozesse. Das kann ein Würfel sein, ein System von Münzwürfen nach dem chinesischen I-Ging, oder ein Pseudo-Zufalls-Generator in einem Computer.
Der Unterschied zur seriellen Technik ist gleichzeitig klein und groß. Auch hier wird eine Maschine gebaut, aber das Resultat ist nicht determiniert. Es wird — in den Grenzen der Vorgaben — frei gelassen. Der*die Komponist*in tritt von der Kontrolle zurück und überlässt der Vielfalt der Möglichkeiten das Feld. Das kann vom Klanglichen her praktisch keinen Unterschied machen zu den Resultaten einer Serie;*7  von der Haltung her ist es jedoch ein wesentlicher Unterschied, der bei Cage mit einer Zuwendung zu Daoismus und Buddhismus zu tun hat.

Geometrie und Stochastik

Iannis Xenakis hat als Architekt und Komponist mit großer mathematischer Bildung ebenfalls schon in den 1950er Jahren viele Methoden entwickelt, die sich in einem Computerprogramm realisieren lassen. So werden im Orchesterstück Metastaseis von 1953 geometrische Projektionen zu musikalischen Verläufen, vor allem, was die Tonhöhen angeht. Massenhafte Ereignisse von Klangpunkten werden von Xenakis nicht seriell, sondern stochastisch organisiert. Eine so eruptive Künstlerpersönlichkeit wie Xenakis konnte es sich erlauben, von „formalisierter Musik“ zu sprechen und schon 1962 ein Streichquartett vom Computer ausrechnen zu lassen.*8  Er wusste, dass es „trotzdem“ wie Xenakis klingen würde ...
Xenakis schrieb schon vor mehr als fünfzig Jahren:

Freed from tedious calculations the composer is able to devote himself to the general problems that the new musical form poses and to explore the nooks and crannies of this form while modifying the values of the input data. [...] With the aid of electronic computers the composer becomes a sort of pilot: he presses the button, introduces coordinates, and supervises the controls of a cosmic vessel sailing in the space of sound, across sonic constellations and galaxies that he could formerly glimpse only as a distant dream.

Xenakis, Formalized Music, 144

Ich habe versucht, an drei klassischen Positionen Neuer Musik schon der 1950er Jahre zu zeigen, wie eng das Verhältnis zwischen Computer und Komponist*in im Hervorbringen dieser Musik sein kann. (Kann, nicht muss: Es macht eine Komposition nicht besser oder moderner, wenn ein Computer eingesetzt wurde, aber auch nicht schlechter, und nicht notwendigerweise ästhetisch rückständiger.) Ich habe auch versucht, einen Einblick zu geben, wie unterschiedlich der Einsatz von „Maschinen“ im Kompositionsprozess schon in dieser frühen Zeit ist. Die Frage nach dem Einsatz, der Bau von (je unterschiedlichen) „Maschinen“, und der Umgang mit deren Resultaten — all dies ist untrennbarer Teil der Schöpfung und Erfindung.

Autor des Beitrags
Joachim Heintz
Leiter des elektronischen Studios fmsbw im Institut für neue Musik Incontri der HMTM Hannover

Fußnoten

*1 Den Begriff Neue Musik verwende ich rein deskriptiv und gleichbedeutend mit moderner oder zeitgenössischer Musik. In Deutschland geht es beispielsweise um das, was auf den Festivals in Donaueschingen oder Witten zu hören ist, was in Zeitschriften wie MusikTexte oder der (auf Robert Schumann zurückgehenden) Neuen Zeitschrift für Musik diskutiert wird, und was von Ensembles wie MusikFabrik NRW oder Ensemble Modern gespielt wird.

*2 Potenziell kann aber jede Eigenschaft als Parameter erblickt und über eine Reihe gestaltet werden, beispielsweise eine Spielbewegung oder der Anteil an Geräuschhaftigkeit.

*3 So der Beitrag von Christian Grüny beim Musik-Workshop der LINK-Tagung am 16.05.2019: https://www.link-niedersachsen.de/tagung/tagungsprogramm_160519

 *4 Ausführlicher bin ich dem in meinem Text Läuft es sich in Kinderschuhen besser nachgegangen. Erschienen in MusikTexte 141 (2014), online unter http://joachimheintz.de/lauft-es-sich-in-kinderschuhen-besser.html
 
*5 Eine schöne Darstellung findet sich in den Abschnitten 3 und 4 von James Pritchett, The Music of John Cage, Cambridge University Press 1993
 
*6 Dazu wiederum genauer und an Williams Mix (1952) exemplifiziert der in Anmerkung 4 genannte Text Läuft es sich in Kinderschuhen besser.

*7 Interessanterweise ist ja der Pseudo-Zufalls-Generator nichts anderes als eine Reihe.
 
*8 Iannis Xenakis, Musiques Formelles, Paris 1963; englisch als: Iannis Xenakis, Formalized Music, Thought and Mathematics in Composition, Pendragon Press 1992. Das 1956-1962 mit Hilfe eines IBM-7090 komponierte Streichquartett hat den Titel ST/4; vgl dazu Kapitel V von Formalized Music unter dem Titel Free Stochastic Music by Computer.