Neue Musik und KI – Teil 2
21. Juni 2019 | Joachim Heintz
Ich habe im ersten Teil dieses Blogbeitrags drei Beispiele für die innere Nähe von Neuer Musik und Informatik schon in den 1950er Jahren geschildert. Es handelt sich dabei natürlich nicht um KI in einem gegenwärtigen Sinn, aber durchaus um Programme, die schon damals tatsächlich eine Komposition erzeugten (Xenakis ST/4) oder grundsätzlich erzeugen können (wie viele serielle Musik oder Musik von Cage). In diesem zweiten Teil möchte ich nun darüber nachdenken, welche Möglichkeiten es heute gibt und welche Fragen für den Gebrauch sich aus meiner Perspektive stellen.
Zunächst ist es wichtig sich klarzumachen, dass „technisch avanciert“ nicht dasselbe ist wie „ästhetisch avanciert“. Wer das miteinander verwechselt, betreibt eine Technikshow, aber keine Kunst. Wenn es gut läuft, ist der „dernier cri“ der Technik dann bestenfalls Fassade, die nichts mit der Substanz einer Musik zu tun hat. Meist aber kommt es schlimmer und man greift, weil man meint, die Technologie sei ja schon Garant des „Neuen“, auf künstlerisch abgegriffene und beliebige Mittel zurück. Eine durch eine KI erfundene und mit elektronischen Klängen gespielte Melodie mit Harmoniebegleitung bleibt aber trotzdem Melodie mit Harmoniebegleitung. Wenn das „neu“ in „Neue Musik“ noch einen Sinn macht, dann vor allem den, dass neuer Wein in neue Schläuche gehört, um die Bibel zu zitieren *1; oder mit anderen Worten: dass das Komponieren selbst immer unterwegs und auf der Suche ist, die jeweils passenden, und in diesem Sinne auch „neuen“ Mittel zu finden.
Komponieren ist nicht nur ein Resultat, sondern eine Tätigkeit. Eine künstlerische Tätigkeit ist zwar auf ein Ziel ausgerichtet, will aber auch Selbstzweck sein. Insofern ist der Einsatz eines Computers oder einer KI auch von der Persönlichkeit des Komponisten bzw. der Komponistin abhängig, sowie von verschiedenen Situationen im Arbeitsprozess. Es ist nicht rückständiger, Noten mit der Hand zu schreiben, als sie von einem Notationsprogramm ausführen zu lassen. Es kann sogar vorzuziehen sein, sei es, weil man das persönlich lieber mag, oder sei es, weil es in einer bestimmten Situation mehr Phantasie eröffnet. Der künstlerische Arbeitsprozess sollte offen in alle Richtungen sein: zum Gebrauch der modernsten Technik, wie auch zum Rückgang auf ganz traditionelle oder schon vergessene Verfahrensweisen. Die Entscheidung darüber trifft man im Augenblick der Hervorbringung, weil man dies oder jenes vorzieht oder produktiver findet.
Ich habe auf der LINK-Tagung der Stiftung Niedersachsen im Mai 2019 mein Software-Instrument ALMA vorgestellt, als Beispiel für ein zwar traditionell programmiertes, aber doch mit einem gewissen Eigenwillen ausgestatteten Wesen. Ich benutze ALMA als Improvisator in einer Duo-Konstellation. ALMA nimmt den Mikrofon-Input einer Stimme oder eines Instruments, analysiert diesen im Hinblick auf verschieden große Einheiten, und gibt mir dann die Möglichkeit, eine Gruppe dieser Einheiten in bestimmten vorgeformten Gestalten zurückzuspielen. Der Duopartner wird so mit einem Teil seiner Vergangenheit konfrontiert, die in veränderter Form zu einer neuen Gegenwart wird. Ich genieße das Verhältnis von Berechenbarkeit und Unbestimmtheit, das mir ALMA beim Spielen eröffnet: Wenn ich den Lautstärkeregler bewege, weiss ich genau, was passiert, aber wenn ich eine bestimmte Taste drücke, weiss ich nur ungefähr, was passiert. ALMA übernimmt gewisse Entscheidungen, auf die ich wiederum reagieren kann. Ich werde nicht überflüssig, aber ich muss auch nicht alles allein machen, und ich kann mich überraschen lassen.
Auf derselben Tagung haben meine Studenten Farhad Ilaghi Hosseini und Philipp Henkel zwei Pilotprojekte vorgestellt, die sie mit Florian Kluger vom Fachbereich Informatik der Leibniz-Uni Hannover erarbeitet haben. Farhad hat eine KI-Bilderkennung in die Lage gebracht, zwei übereinander liegende Gesichter zu identifizieren, und arbeitet dann mit den dabei entstehenden Daten und vor allem den durch Irritationen der KI entstandenen Zuckungen, um Klänge zu erzeugen. Philipp hat versucht, eine auf die Nachahmung von Instrumenten trainierte KI dazu zu bringen, neue Spektren zu erzeugen, anstatt nur Vorgegebenes zu reproduzieren. In diese Richtung geht es, was „mit Maschinen spielen“ *2 bedeuten kann.
Wenn ich mir Orte der Kunst vorstelle, die mir im Zeitalter der KI interessant und relevant erscheinen, fallen mir unterschiedliche Möglichkeiten ein. Mir scheint, dass es genauso wichtig ist, traditionelle Praktiken und Übungen zu erneuern und zu pflegen — in der Komposition etwa Intervallbewusstsein, inneres Hören, rhythmische Genauigkeit, Formgefühl —, wie andererseits offen für und neugierig auf das Spielen mit diesen modernsten Maschinen zu sein. Ich glaube allerdings, dass moderne Kunst nicht dazu da ist, Technik vorzuzeigen, sondern Technik immer auch befragt. Wenn KI für Überwachung eingesetzt wird, wird ein*e Künstler*in vielleicht ein Stück über Aspekte dieser Überwachung machen, oder die KI zu Fehlern bringen, und damit spielen. Kunst will Räume öffnen und neue Wahrnehmungen ermöglichen, in einer Wirklichkeit, in der Räume und Wahrnehmungen aus Herrschaft und Kontrolle, aus mangelnder Sensibilität oder Überforderung immer mehr verschlossen werden. Das ist Lebens- und Ausdruckswille, was jede*n Einzelne*n angeht, und gerade dadurch auch ein Zeichen und Stellungnahme, was die Gesellschaft angeht.
Fußnoten
*1 „Niemand näht ein Stück neuen Stoff auf ein altes Gewand; denn der neue Stoff reißt vom alten Gewand ab und es entsteht ein noch größerer Riss. Auch füllt niemand jungen Wein in alte Schläuche. Sonst zerreißt der Wein die Schläuche; der Wein ist verloren und die Schläuche sind unbrauchbar. Junger Wein gehört in neue Schläuche.“ Das Evangelium nach Markus 2,21-22
*2 So der Titel des Beitrags von Christian Grüny zum Musik-Workshop der Tagung.